Update (22.03.2023): Das Open Peer Review zu dieser Einreichung ist abgeschlossen. Auf Grundlage des Open Peer Reviews wurde der Artikel zur Veröffentlichung im Journal für Medienlinguistik angenommen und ist abrufbar unter: https://doi.org/10.21248/jfml.2019.18.
Auf dieser Seite können Sie das Diskussionspapier zu der Einreichung für das Journal für Medienlinguistik im PDF-Format herunterladen. Das Blogstract fasst die Einreichung allgemein verständlich zusammen. Sie können das Diskussionspapier und das Blogstract unter diesem Beitrag kommentieren. Bitte benutzen Sie hierfür Ihren Klarnamen. Bei Detailanmerkungen zum Diskussionspapier beziehen Sie sich bitte auf die Zeilennummerierung des PDFs.
Blogstract zu
„Irgendwie bin ich immer am Schreiben“. Vom Sinn transdisziplinärer Analysen der Textproduktion im Medienwandel
von Daniel Perrin
“Irgendwie bin ich immer am Schreiben”, sagt eine Journalistin, befragt zu ihrem Arbeitsalltag. Tatsächlich: Am Smartphone schreiben wir überall und immer, in kleinsten Häppchen, beiläufig. So wird im Geschäftsalltag inzwischen mehr schriftlich kommuniziert als mündlich. Das verändert die Gewohnheiten und Erwartungen, wie wir Texte verfassen, wie Texte gebaut sind und wie wir Texte aufnehmen. Natürlich zieht eine solche Veränderung ihre Spur im Journalismus. Dort wird immer mehr beiläufig geschrieben als fokussiert.
Dieser Beitrag untersucht, wie sich Schreiben im Journalismus verändert hat in den letzten zwanzig Jahren und was das bedeutet für die Aus- und Weiterbildung im Beruf. Zudem zeigt er, was es bringt, wenn bei einer solchen Untersuchung die WissenschaftlerInnen nicht nur über die JournalistInnen forschen, sondern auch für sie und mit ihnen: in gemeinsam angelegten Forschungsprojekten, in denen alle Beteiligten voneinander lernen. Es geht also um zwei Ebenen: erstens darum, wie sich Schreiben im Journalismus verändert, und zweitens darum, wie Forschung angelegt sein muss, damit sie solche Veränderungen angemessen erfassen kann.
Wie also verändert sich Schreiben im Journalismus? – Vor zwanzig Jahren waren JournalistInnen oft einsame Schreibende, die sich nach der Recherche zurückzogen an ihren Arbeitsplatz und dort still für sich einen Text verfertigten. Danach reichten sie das Werk weiter an die nächste Stelle, in die Produktion, und fertig war ihre Arbeit. Mit dem Internet veränderte sich zuerst die Recherche, man konnte vom Schreibgerät aus weiterrecherchieren. Seit den Sozialen Medien aber netzwerken JournalistInnen ständig schriftlich mit ihren Quellen und AdressatInnen, und vor lauter beiläufigem Schreiben fehlt oft die Zeit fürs fokussierte Verfassen eines Texts.
Und wie hat unsere Forschung diese Veränderungen erfasst? – Seit über zwei Jahrzehnten führen wir Progressionsanalysen in Redaktionen durch: Bei allen JournalistInnen an allen Arbeitsplätzen zeichnet Software auf, was sie genau tun, wenn sie schreiben. Daraus entstehen Videos, die sie sich nach dem Schreiben anschauen. Während sie sehen, wie ihr Schreibprozess abgelaufen ist, sagen sie, was genau sie hier tun und warum. Daran wird deutlich, was von dem, das sie tun, ihnen selbst auffällt, und wie sie es begründen. Solche Forschung zeigt also Schreiben als reflektierte Praxis – von einzelnen und ganzen Redaktionen über Jahrzehnte.
Ein solch präziser Zugang zur Berufspraxis bedingt das Vertrauen der Beforschten. Sie machen dann mit, wenn sie nicht Objekte der Forschung, sondern Teilhaber sind. Das bedeutet, dass WissenschaftlerInnen und JournalistInnen sich als Partner verstehen, die in einem gemeinsamen Forschungsprojekt voneinander lernen. Schon die Forschungsfragen werden gemeinsam entwickelt, damit nichts ausgeblendet wird, was für die eine oder andere Seite interessant sein könnte. Diese Art des Forschens heißt transdisziplinär. Projekte dauern länger und sind aufwändiger, aber eben oft ergiebiger, weil sie tiefe Einblicke in die Praxis ermöglichen …
… und dann zum Beispiel zeigen, wie erfolgreich man beim Gestalten der Laufbahn sein kann, wenn man, gegen den Trend, beim fokussierten Schreiben bleibt.
Gutachten von Eva-Maria Jakobs
–
Sehr geehrter Kollege Perrin, lieber Daniel,
ich habe den Beitrag „Irgendwie bin ich immer am Schreiben…“ mit großem Interesse und Gewinn gelesen. Im nachfolgenden Gutachten gehe ich auf einzelne Punkte genauer ein.
Originalität und Innovativität
Oft erschöpfen sich Disziplinen im Kanon des Gewohnten. Vor diesem Hintergrund ist der Wert des Beitrages nicht hoch genug zu schätzen. Er skizziert ein hochaktuelles Forschungsfeld in verschiedenen Dimensionen mit einem hohen Potential für die Medienlinguistik, das sich nicht zuletzt aus der konsequent prozesszentrierten Sicht und der Perspektive auf journalistisches Schreiben als situiertes Handeln in hochkomplexen und sich schnell verändernden Kontexten ergibt.
Der Beitrag zeigt in beeindruckender Weise, was in einem Fach möglich ist, wenn sich – theoretisch wie methodisch „Breite mit Tiefe“ verbindet und Ansätze verschiedener Disziplinen – hier der modernen Textproduktionsforschung (real-live writing in der Domäne Journalistik) und der Angewandten Linguistik – mit transdisziplinären Ansätzen kombiniert werden.
Der Beitrag entwirft sehr stringent den Forschungsrahmen, in den anschließend Befunde der Forschung zum Thema verortet werden. Der Leser erhält einen konzentrierten Überblick zu zentralen Fragestellungen und Herausforderungen des Gegenstandsbereichs wie auch zu zentralen Begriffen und Konzepten seiner Untersuchung (z.B. zu Schreiben und Textproduktion, Z. 319ff., Schreibstrategie, Z.355ff., reflektierter Schreibpraxis, Z. 370f., Praktiken, Z.380f). Die Innovativität des Ansatzes und sein Ertrag ergeben sich nicht zuletzt aus der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der herangezogenen Forschungsansätze verschiedener theoretischer Richtungen und den zwischen ihnen hergestellten Bezügen. Vieles macht neugierig und lädt zum Nach- und Weiterlesen ein.
Originell sind auch die im Beitrag beschriebenen Trends (und Gegentrends), insbesondere der Wandel vom fokussierten Schreiben zum beiläufigen Schreiben und der Druck zur (digitalen) „Bewirtschaftung von Anspruchsgruppen“ über alle Kanäle. Ähnliche Tendenzen zeigen sich aktuell in der Domäne Unternehmenskommunikation. Hohe Aktualität hat nicht zuletzt die Forderung nach Vermittlung einer Media Literacy, die den Adressaten journalistischer Formate erlaubt, „Mechanismen des Aufschaukelns von Themen in Phasen algorithmisch gesteuerter Relevanzkonstruktion zu durchschauen und sich faktenbasiert [zu] informieren“ (Z. 1031f.).
Angemessenheit und Umsetzung der Methoden
Der beschriebene methodische Zugang ist in vielen Jahren entwickelt worden und in seiner Art weltweit einzigartig. Es wäre ein großer Gewinn, wenn das damit verbundene Wissen und Können in Weiterbildungsangeboten der Community zugänglich gemacht werden würde. Die genannten Methoden wie auch die beschriebenen Datensätze verweisen zugleich auf große Herausforderungen der modernen (Medien-)Linguistik – die ausbildungsbasierte Vermittlung neuer Methoden der computergestützten Erhebung, Aufbereitung und Analyse von Daten sowie die Bereitstellung einer leistungsfähigen Infrastruktur an Forschungseinrichtungen (etwa zur Langzeitarchivierung umfangreicher Datenmengen) mit qualifiziertem Servicepersonal.
Plausibilität und Stringenz der Argumentation
Die Argumentation ist durchgehend stringent und plausibel. Die Grafik nach Zeile 232 ist sehr informativ und in Kombination mit der nachfolgenden Erläuterung ausgesprochen erhellend.
Beitragsstruktur und sprachliche Form
Der Text ist sehr gut gegliedert und lesbar. Hier zeigt sich die Expertise eines erfahrenen Wissenschaftlers, der in seiner Argumentation gern „scharf stellt“. Es gibt nur wenige Stellen, die noch einmal geprüft werden sollten: Zeile 198 „vielschichten“, Zeile 744 „Tat“ und Zeile 844 „zur Sprache bringen“.
RESÜMEE
Ein ausgezeichneter Beitrag und ein sehr guter Auftakt für die noch junge Zeitschrift.
ABSCHLIEẞENDES URTEIL
[X] Beitrag annehmen
[ ] Überarbeitung erforderlich
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[ ] Anderswo erneut einreichen
[ ] Beitrag ablehnen
[ ] Siehe Kommentare
Mit kollegialen Grüßen,
Eva-Maria Jakobs
Sehr geehrter Herr Kollege Perrin, lieber Daniel,
herzlichen Dank für Deinen Beitrag, den ich mit großem Gewinn gelesen habe.
Allgemeine Anmerkungen:
Die transdisziplinäre Analyse journalistischer Textproduktion steht für eine Herangehensweise, die empirisch fundierte Erkenntnisse sowohl für die Schärfung medienlinguistischer Theoriebildung als auch für praktische Fragestellungen nutzbar machen will. Was das heißen soll und welche Perspektiven sich daraus ergeben, wird in dem Beitrag in fünf Schritten systematisch erarbeitet und an Beispielen veranschaulicht.
In den ersten beiden Schritten wird der theoretische Rahmen entwickelt: Die Forschungsfrage wird präzisiert und fachlich verortet; der grundlegend ethnographische Zugang wird durch andere Forschungsrahmen ergänzt. In der Folge werden die zentralen Beschreibungskategorien erläutert: Kollaborative Textproduktion am journalistischen Arbeitsplatz wird als ein Bündel von Praktiken beschrieben, die von den Akteuren reflektiert werden (können) und damit (anders als bloße Routinen) auf Strategien verweisen. Sie haben eine zeitgebundene Dimension und beziehen sich auf unterschiedliche Kontexte. Auf diesen Grundlagen aufbauend wird dann im dritten Schritt ein konkreter methodischer Ansatz für die Rekonstruktion der Textproduktionspraktiken vorgestellt und erläutert: die Progressionsanalyse, in der soziale, materiale und mentale Aspekte der Textproduktion untersucht werden. Die Tatsache, dass mit diesem Instrumentarium seit 1995 gearbeitet wurde und heute deshalb eine Fülle an vergleichbaren empirischen Daten aus diversen Projekten zur Textproduktion in Nachrichtenredaktionen vorliegt, erlaubt eine Langzeitanalyse, in der sowohl Konstanten der Entwicklung als auch Tendenzen des Wandels sichtbar werden. Diese Befunde werden im vierten Schritt besprochen und diskutiert: Auf der Seite der Konstanten steht das Zusammenspiel von Kontexten und Praktiken in der kollektiven Textproduktion; als wichtigste Veränderung sieht der Autor den (durch die Digitalisierung verursachten) Trend vom „fokussierten“ zum „beiläufigen“ Schreiben. Im abschließenden Fazit (Schritt 5) fasst der Autor die Befunde zusammen und fragt nach den Konsequenzen, nicht zuletzt für die journalistische Ausbildung: Einerseits betont er die Förderung neuer Kompetenzen, die den Praktiken des „beiläufigen“ Schreibens gerecht werden, andererseits sieht er neue Nischen für „Positive Deviants“, die (auch entgegen dem Zeitgeist) am „fokussierten“ Schreiben festhalten.
Ob diese Sichtweise Zustimmung findet, wird sich in der Diskussion des Beitrags zeigen. Das Beispiel der Journalistin MD muss wohl in der Tat als eine Nischenlösung gesehen werden; der Verweis auf das Rieplsche „Gesetz“ scheint mir hier nur begrenzt aussagekräftig. Aber das kann ja diskutiert werden.
Das Potenzial des transdisziplinären Ansatzes kann der Beitrag jedenfalls sehr gut vermitteln. Der präzise formulierte Text (offensichtlich das Ergebnis fokussierten Schreibens) und der immer transparente Argumentationsgang erlauben es auch Interessierten, die selber nicht im Feld der Textproduktionsforschung beheimatet sind, sich ein klares Bild zu verschaffen. Die fundierte theoretische Verankerung, das überzeugende methodische Konzept und nicht zuletzt auch die empirischen Befunde und ihre differenzierte Interpretation machen den Wert des Beitrags aus und begründen meine Einschätzung, dass er ohne wesentliche Änderungen im Journal für Medienlinguistik publiziert werden sollte.
Anmerkungen zu einzelnen Stellen des Beitrags:
Z. 36 (und mehr): Mir ist nicht ganz klar, wie spezifisch „multimodal“ hier und an anderen Stellen gemeint ist. Bedeutet es mehr, als dass journalistisches Schreiben immer multimodal ist?
Z. 174: Komma löschen
Z. 243 f.: kann man Produkte „steuern“?
Z. 311: hier vielleicht auch schon die „Phase“ mit aufführen (vgl. Z. 339)
Z. 416 ff.: Das Beispiel könnte u.U. in die Irre führen, weil es die Linearität des Schreibens mit einem chronologischen Textaufbau in Zusammenhang bringt
Z. 437: Komma löschen
Z. 584: „nach einer“ à „eine“
Z. 744: „Tat“ à „tat“
Z. 808: OnlineRedaktionen“ à „Online-Redaktionen“
Z. 895: Müsste es nicht eher Gerundium statt Gerundiv heißen?
Z. 1099 ff.: Ich habe das (sehr schöne) titelgebende Zitat eigentlich als Verweis auf das „beiläufige“ Schreiben verstanden (s. auch Blogstract Absatz 1). Angesichts der Charakterisierung des Schreibverhaltens von MD frage ich mich, inwiefern das Zitat eigentlich wirklich zu ihr passt.
Abschließendes Urteil:
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Herzliche GrüßeThomas Schröder