Update (21.03.2023): Das Open Peer Review zu dieser Einreichung ist abgeschlossen. Auf Grundlage des Open Peer Reviews wurde der Artikel nicht zur Publikation im Journal für Medienlinguistik empfohlen.
Auf dieser Seite können Sie das Diskussionspapier zu der Einreichung für das Journal für Medienlinguistik im PDF-Format herunterladen. Das Blogstract fasst die Einreichung allgemein verständlich zusammen. Sie können das Diskussionspapier und das Blogstract unter diesem Beitrag kommentieren. Bitte benutzen Sie hierfür Ihren Klarnamen. Bei Detailanmerkungen zum Diskussionspapier beziehen Sie sich bitte auf die Zeilennummerierung des PDFs.
Blogstract zu
Wenn das Produkt zum Flirt wird – multimodale Textualität am Beispiel von In-App-Werbung bei Tinder
von Ralph Smyreck
Der Markt für Online- und Mobile-Werbung wächst kontinuierlich. Der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) konstatierte im Jahr 2017 in diesem Segment Nettowerbeinvestitionen von zirka 2 Milliarden Euro, allein in Deutschland. Digitale Werbung ist ein zunehmend wichtig werdender Bestandteil der Vermarktungsstrategien vieler Unternehmen. Für sie bietet Online- und Mobile-Werbung eine Vielzahl an Möglichkeiten, Produkte kreativ zu vermarkten. Werbung, die beispielsweise auf Smartphones und anderen mobilen Geräten angezeigt wird, besteht aus unterschiedlichen Teilen, die jeweils eigene Funktionen übernehmen, sich gegenseitig ergänzen und ein großes Ganzes formen. Klassische Elemente einer Werbeanzeige, wie statische Bilder und Werbetexte, werden immer öfter ergänzt durch kurze Videos, Musik sowie Links auf Websites oder Online-Shops. Das Erleben von Werbung erfolgt somit über mehrere Sinneskanäle gleichzeitig: auditiv, visuell und – aufgrund des Touchscreens vieler Geräte – haptisch. Gleichzeitig muss das Medium für eine Folgehandlung, etwa den Kauf des beworbenen Produkts, nicht gewechselt werden. Ein weiterer Vorteil dieses Werbekanals besteht zusätzlich darin, Anzeigen interaktiv gestalten zu können. Vor allem die sogenannte In-App-Werbung bietet Unternehmen hier viel kreatives Potenzial.
Im vorliegenden Beitrag werden vier interaktive Werbeanzeigen untersucht, die in der Dating-App Tinder geschaltet wurden. Eine Besonderheit dieser Anzeigen ist, dass sie das Verwendungsprinzip der App aufgreifen und den Nutzer dadurch zum notwendigen Bestandteil einer funktionierenden Werbung machen. Zu Beginn des Beitrags wird kurz auf die Funktion von Tinder eingegangen, bevor Möglichkeiten zur Einbettung von Werbung innerhalb dieser App beschrieben werden. Im Anschluss werden theoretische Fragen zur Betrachtung von multimodalen Texten diskutiert und zentrale Begriffe erklärt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Untersuchung von mobiler Werbekommunikation. Im Rahmen der Analyse der Werbeanzeigen wird schließlich auf formaler und lexikalisch-semantischer Ebene gezeigt, wie sich die einzelnen Bestandteile und ihre jeweiligen Funktionen ergänzen, aufeinander beziehen und so ein komplexes, interaktives Konstrukt formen. Im Beitrag werden die interaktiven Möglichkeiten dieses Werbeformats aufgedeckt sowie die notwendigen Schritte und Handlungsanforderungen herausgearbeitet, die an den App-Nutzer gestellt werden, damit diese Form von Werbeanzeige ihre Funktion überhaupt in vollem Umfang erfüllen kann. Zum Schluss werden einige Chancen und Risiken dieses Werbeformats diskutiert und Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungsmöglichkeiten gegeben.
Gutachten von Hartmut Stöckl
Empfehlung: Überarbeitung erforderlich
—
Der vorliegende Text widmet sich einem aktuellen und spannenden Thema der Medienlinguistik und gibt dem Leser einen konzisen und anschaulichen Einblick in die spezielle Praxis der In-App-Werbung. Die vier Beispielanalysen vermitteln dem Werbe- bzw. Medieninteressieren eine klare Vorstellung von den inhaltlichen, pragmatischen, linguistischen und multimodalen Techniken der Anzeigengestaltung. Der Aufsatz bindet vorhandene Ansätze und Literatur im Wesentlichen gut ein; seine Sprache ist sehr klar und präzise. Insbesondere nutzt der Autor die vorhandene Marketing-Literatur geschickt, um das Feld umfangreich zu charakterisieren. Der Aufsatz entspricht auch formal allen Anforderungen an einen soliden wissenschaftlichen Text (Quellen, Zitate, Verweise, Literaturverzeichnis).
Im Folgenden liste ich einige grundsätzliche inhaltliche und methodische Bedenken, die allerdings die Leistung des Autors nicht schmälern, sondern eher der Reflexion dienen sollen, welche Art von Beiträgen man in dem JfML fördern möchte.
1. Die analytischen Beobachtungen beruhen lediglich auf als für das Genre/Sub-Genre typisch angenommenen Fallbeispielen. Zwar ist die Rede von einem Beobachtungszeitraum und ansatzweise auch von Quantifizierung, z.B. bzgl. des Verhältnisses von interaktiven/nicht-interaktiven Anzeigen (Zeile 756), jedoch gewinnt man nicht den Eindruck einer Korpus-Studie, deren Materialgrundlage genau beschrieben wird.
2. Der Fokus des Aufsatzes liegt trotz vereinzelter anders orientierter Ansätze im Wesentlichen in der pragmatischen Funktionsweise der spezifischen Werbeform, nicht im Linguistischen und nicht im genuin Multimodalen. Die Schwerpunkte, die ich wahrgenommen habe, beziehen sich auf die Funktionsweise des Mediums und auf die Umgangsweise der Rezipient*innen mit dieser Art von Werbung (siehe 4.5 Handlungsanforderungen) und nehmen deshalb auch öfter auf die linguistisch nicht belastbare Kategorie der Effektivität Bezug. In einem JfML ist diese Orientierung okay, jedoch wünschte man sich ein wenig mehr Tiefgang mit Blick auf Linguistisches und Multimodales.
3. Für einen Aufsatz, der ‚multimodale Textualität‘ im Titel führt, scheint mir gerade der Aspekt des Zusammenspiels der Modalitäten, ihrer musterbildenden Bezüge und ihrer jeweiligen kommunikativen Potenziale und Defizite ein wenig unterbelichtet. Auch zu multimodaler Werbung gibt es bereits einiges an Literatur.
4. Textlinguistische Grundlagen ernster zu nehmen, würde bedeuten, die In-App-Werbung als Sub-Textsorte zu betrachten und sie systematisch anhand der dafür verfügbaren Kriterien zu charakterisieren. Dazu sollte auch stärker die klassische linguistische Werbeforschung herangezogen werden, die sehr viel über die Textsortenmerkmale der Werbung weiß – warum kommen JANICH 20136 und 2012 z.B. überhaupt nicht vor, wo doch hier sehr viel Vorarbeit zu allen linguistischen Beschreibungsebenen von Werbetexten geleistet worden ist?
5. Als zentrale theoretische Ansätze werden im Wesentlichen STÖCKL 2016 und SCHMITZ 2016 ausgeführt und z.T. angewendet. Allerdings stehen diese Grundlagen weitestgehend unkommentiert und es wird nicht klar, in welcher Weise sie Anwendung finden. Die Fallbeispiele geben nicht explizit zu erkennen, ob und wie sie die vorgeschlagenen analytischen Ebenen und Kriterien anwenden – dieser Strukturmangel zeigt sich auch formal in den recht langen Teilkapiteln der Fallbeispiele, die durch eine feinere und sinnhafte Binnengliederung an Klarheit gewinnen könnten.
6. Der multimodale Aspekt von In-App-Werbung, die sich diesbezüglich nicht wesentlich von Print-Anzeigen bzw. audiovisuellen Spots unterscheidet, bestünde vor allem darin, die semantischen und formalen Bezüge zwischen den Modalitäten zu beschreiben; dieser Aspekt kommt zu kurz und dazu findet sich auch zu wenig theoretische Grundlage (s. lediglich sehr allgemein NÖTH 2000 und unspezifisch HELD 2006). In Anbetracht der rasanten Entwicklung der Forschung in diesem Bereich (z.B. BATEMAN 2014, BATEMAN et al. 2017) wünschte man sich mehr Sensibilität und Tiefgang. Terminologische Unklarheiten sehe ich in der Doppelverwendung von multikodal/multimodal (s. Zeile 36) sowie in der Rückführung des Begriffs Kode auf psychologische Konstrukte (s. Zeile 235) und nicht wie nötig auf semiotische. Die angesprochenen Relationen (s. Zeile 58f. – hier zudem missverständlich formuliert) zwischen den Zeichenmodalitäten stehen, zumindest nach meinem Lektüreeindruck zu urteilen, nicht im Vordergrund der Analysen.
7. Zwei weitere Beobachtungen betreffen erstens die überwiegend positive Beurteilung der In-App-Werbung und zweitens die inhaltliche/interaktive Ausrichtung der besprochenen Fallbeispiele. Erstens ist In-App-Werbung natürlich kognitiv betrachtet zunächst eine Ablenkung von der eigentlichen Tätigkeit des Rezipienten und insofern ein nicht willkommener Störfaktor. Evtl. sollte man hier Erkenntnisse zur generellen Reaktanz von Rezipienten gegenüber Werbung unterbringen und diese spezifisch auf die In-App-Werbung beziehen. Zweitens scheint mir, dass die ausgewählten Beispiele (bis auf die MINI-Anzeige) so gestaltet sind, dass sie Reaktanz bewusst minimieren, indem sie sich so gut wie möglich an das mediale Umfeld anpassen. Just diese auf eine Imitation des Mediums und seiner Logik bezogenen Gestaltungsaspekte scheinen mir bei der Beschreibung der Fallbeispiele im Vordergrund zu stehen. U.U. sollte man das stärker hervorheben und auf Studien beziehen, die solche „Verschleierungs- bzw. Anpassungs-“-Techniken zum Gegenstand haben.
8. Zeilen 738–740 geben zu denken, weil hier die Verallgemeinerbarkeit der Fallbeispiele in Zweifel gezogen wird. Fallbeispiele sollten aber repräsentativ und typisch für das untersuchte Material stehen können, sonst ist nicht klar, welchen Zweck die Analysen verfolgen. Man würde als Medienlinguist erwarten, dass der Aufsatz die typische multimodale Gestaltung des untersuchten Sub-Genres erschöpfend erörtert. Anderenfalls sollte der Titel auf einen spezifischeren Aspekt hin orientieren. Ich bezweifle auch, dass – wie in Zeilen 765–767 behauptet – die hohe Interaktivität der In-App-Werbung unmittelbar auf die multimodale Textualität zurückgeführt werden kann (die eben zudem unzureichend beschrieben worden ist); sie resultiert vielmehr aus der medialen Spezifik, d.h. den technischen und funktionalen Affordanzen der App.
Zusammenfassend scheint mir der vorliegende Aufsatz schlüssig und interessant. Durch einige Erweiterungen und Präzisierungen (s.o.) könnte er an Klarheit und Prägnanz gewinnen. Bezogen auf den Titel der Zeitschrift verkörpert der Text eher und besser medienbezogene Ansätze, weniger linguistische.
Die folgenden konkreten Änderungen bzw. Ergänzungen wären anzuregen:
1. Das der Studie zugrunde liegende Material sollte zeitlich und vom Umfang her situiert werden. Etwaige Hinweise auf Quantifizierungen wären zu relativieren bzw. zu tilgen.
2. Mit Blick auf die tatsächliche inhaltliche Ausrichtung wäre der Titel des Aufsatzes zu überdenken.
3. Die Einführung bzw. thematische Grundlegung der Studie sollte einige zentrale Quellen zu multimodaler Werbung nennen und kommentieren, so dass man das aktuelle Anliegen besser einordnen kann und sieht, welche Vorarbeiten bereits geleistet sind.
4. Ein expliziter und kommentierter Bezug auf JANICH 20136 und/oder JANICH 2012 wäre unerlässlich.
5. Die Präsentation der Fallstudien sollte explizit auf die wichtigen untersuchten Ebenen/Kategorien (z.B. Lexik, komm. Funktion, Bildinhalte, text-image relations etc.) bezogen werden und in dieser Weise auch klar binnen-gegliedert werden.
6. STÖCKL 2016 und SCHMITZ 2016 sollten eingeordnet und kommentiert werden. Es wäre vorteilhaft klar zu machen, warum und inwiefern der Autor darauf Bezug nimmt. Auch sollte klar werden, was die Ansätze leisten und in welcher Weise die vorliegende Studie diese Ansätze konkret ver-/anwendet.
7. Wenn die multimodalen Bezüge in den untersuchten Texten tatsächlich so wichtig sind wie der Titel vermuten lässt, dann bedarf der Beitrag einer stärkeren theoretischen Fundierung in diesem Bereich. Ebenso sollten dann die Fallbeispiel-Analysen stärker darauf Bezug nehmen. Andernfalls wäre die Zentralität dieses Aspekts zurückzunehmen. Die beiden angesprochenen begrifflichen Probleme wären zu bereinigen.
8. In-App-Werbung sollte auch als Störfaktor in der kognitiven Tätigkeit des App.-Benutzers thematisiert werden und relevante Gestaltungsaspekte als Techniken der Störungsminimierung bzw. der Tarnung von Werbung als redaktioneller Inhalt betrachtet werden.
Gutachten von Nina Janich
Empfehlung: Beitrag ablehnen
—
Der eingereichte, gut lesbare und wohlstrukturierte Beitrag bietet eine solide und kompetente Analyse einzelner Beispiele von In-App-Werbung auf der Online-Plattform Tinder im Rahmen des Mobile Marketing. Erklärtes Ziel der Analyse ist es, diese Werbung in ihrer Gestaltung und Wirkung als multimodales Kommunikat zu beschreiben und die dadurch möglicherweise neu eröffneten Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten der Nutzer_innen mit der Werbung bzw. dem Unternehmen zu eruieren.
Der theoretische und methodische Ansatz des Artikels ist jedoch weder besonders originell noch innovativ. Auch wenn die vier konkreten Textbeispiele als Werbung originell gestaltet sind, weil sie sich großteils an die typischen Personenprofile von Tinder anlehnen und damit, visuell unterstützt, Polysemie sprachspielerisch für doppelte Lesarten nutzen (Partnersuche/Liebschaft vs. Produkt-/Dienstleistungs-/Stellenangebot), so ist dieses Gestaltungsprinzip doch nicht systematisch neu: Die Anpassung von Werbung an den textuellen und medialen Kontext ist eine althergebrachte Strategie von Unternehmen und ihren Agenturen (man denke z.B. an Printanzeigen, die wie redaktionelle Artikel gestaltet sind, oder an In-App-Werbespots in Online-Spielen, die Spielzüge in einem anderen Spiel vorspiegeln). Diese Strategie wird unter Stichwörtern wie Textmustermischung, Textmustermorphose oder Intertextualität schon lange an Werbebeispielen untersucht (z.B. von Ulla Fix, Nina Janich oder Roman Opilowski). Dass die untersuchten Werbeanzeigen sich auch in Bezug auf die Reaktionsmöglichkeiten der Betrachter_innen an die genutzte Plattform Tinder anpassen, indem sie das Swipen und Matchen erlauben, ist eine konsequente Fortführung einer solchen Gestaltung – wo diese aber in Form von echter Anschlusskommunikation spannend werden könnte (u.a. im Hinblick darauf, wo sie von Werbung zum Direktmarketing und echten Dialog wird, wo sie womöglich in Sackgassen gerät), endet der analytische Blick des Autors (siehe Fußnote 6, S. 17).
Auch theoretisch-methodisch geht der Autor keine neuen Wege: Multimodalität wird zwar seit einiger Zeit auch in der Linguistik hoch gehandelt, als werbelinguistischer Untersuchungsgegenstand war sie aber im Grunde nie wegzudenken. Entsprechende Forschung beschränkte sich dabei in den letzten zwanzig Jahren keineswegs nur auf Printwerbung und Produktverpackungen (hierzu zitiert der Autor zwei Literaturbelege, S. 2), sondern wurde auch schon vielfach z.B. an Werbespots, Prospekten und vor allem auch längst schon an verschiedenen Formen von Online-Werbung untersucht (in verschiedensten Beiträgen z.B. Nina Janich, Jens Runkehl oder Hartmut Stöckl – die letzteren beiden werden für den methodischen Zugriff vom Autor später noch genutzt).
In seinem Theoriekapitel 3 holt der Autor mit Begriffserläuterungen zu Text, Situation, Modus und Kode überraschend weit aus – statt vielleicht besser gleich zum zentralen Begriff der Multimodalität zu kommen und dafür lieber die analytisch noch relevant werdenden Konzepte der Intertextualität und Crossmedialität in die definitorische Klärung einzubeziehen. Weiterführende aktuelle Konzepte wie Inter- und Transmedialität, die für diese Art der Kommunikation (mit Verlinkung, Nutzung von Hashtags usw., siehe S. 2, Z. 35ff.) hätten interessant werden können und meines Wissens werbelinguistisch auch noch nicht wirklich ausgeleuchtet wurden, werden weder genutzt noch erwähnt.
Eine Anmerkung hierzu am Rande: Der Autor kategorisiert die Möglichkeit, auf die Werbeeinblendungen mit Wischen/Swipen zu reagieren, als haptische Dimension der Werbung – und nicht des Mediums Smartphone! (S. 24, Z. 774f.). Das scheint mir ein unklarer Begriff von Modus vs. Medium zu sein – ich hätte die haptische Qualität für Anfassbares und Fühlbares in der Werbung reserviert. Und Haptik in diesem Verständnis (als Teil multimodaler Gestaltung) ist im Online-Bereich ja gerade nicht möglich (weshalb z.B. in den Digital Humanities im Kontext der Digitalisierung von kulturellem Erbe diskutiert wird, wie mit der fehlenden materiellen Qualität von Digitalisaten umzugehen ist, weil die haptischen Dimensionen der Originale verloren gehen).
Überraschend ist aber vor allem, dass der Autor die inzwischen schon relativ breite werbelinguistische Literatur zu verschiedenen Online-Werbeformaten, vor allem zur Bannerwerbung (z.B. Monographien von Anja Janoschka oder Jens Runkehl), nicht ausführlich(er) rezipiert. Bannerwerbung als ein frühes und bis heute weit verbreitetes Online-Werbeformat hätte sich als Vergleichsgrundlage (weil online, aber nicht In-App) angeboten, um die Gestaltungsmuster von In-App-Werbung allgemein und Tinder-Werbung konkret auf ihre Neuheit/Originalität und Spezifik überprüfen zu können. Insgesamt drängt sich bei der Lektüre nämlich der Eindruck auf, dass die In-App-Werbung auf Tinder – abgesehen von der Profil-Imitation – rhetorisch eher traditionell agiert, und dass sich auch die hier fokussierten Interaktionsmöglichkeiten (siehe Abschnitt 4.5) gegenüber der klassischen Bannerwerbung nicht wesentlich erweitert haben. Spezifisch für Werbung auf Tinder erscheinen daher nur die vom Autor genannten Handlungsmöglichkeiten (5) und (6), also das Swipen und Matchen (siehe S. 23). Die Möglichkeit von Anschlusskommunikation dagegen, wie sie durch Anklicken von Links ermöglicht wird, und die damit gegenüber bloßer Persuasion wichtiger werdende Kontakt- und Informationsfunktion besteht auch bei anderer Online-Werbung und scheint eines ihrer generellen Spezifika zu sein (vgl. z.B. ausführlich diskutiert schon bei Janich, Nina (2002): Wirtschaftswerbung offline – online. Eine Bestandsaufnahme. In: Thimm, Caja (Hrsg.): Unternehmenskommunikation offline/online: Wandelprozesse interner und externer Kommunikation durch neue Medien. Frankfurt am Main u.a., S. 136-163, hier bes. Kap. 2.2 – oder im Kapitel zu Online-Werbung 1.0, 2.0 und 3.0 von Jens Runkehl im Arbeitsbuch „Werbesprache“ von Nina Janich (6. Aufl. 2013), Tübingen, S. 95-109).
Auch hierzu eine Anmerkung am Rande: Das Ignorierenkönnen von Werbung (z.B. durch Wischen oder Anklicken eines x, Handlungstyp 4) in gleicher Weise als ein Interagieren mit der Werbung zu definieren (S. 22, Z. 667-671), erscheint mir problematisch – zumal auch diese Handlungsmöglichkeit keineswegs neu wäre (man denke an das Um- und Überblättern einer Zeitschriftenanzeige oder die verbreitete Möglichkeit, Online-Werbung wegzuklicken).
Ein systematischer Vergleich der untersuchten Werbebeispiele und ihrer Merkmale mit anderen Werbeformaten und -textsorten (wenigstens im Online-Bereich) fehlt aber wie gesagt – aus meiner Sicht eine notwendige Mindest-Basis für die vielen vom Autor vorgenommenen und mitunter etwas unreflektierten Bewertungen der Originalität, Relevanz, Effektivität und Wirkung der Werbegestaltung auf die Einstellungen und Handlungen der Nutzer_innen.
Schließlich fehlen im Text Begründungen für die Textauswahl (S. 10, Z. 362-365). Auch wenn diese mit der Streuung auf Produkt-, Dienstleistungs- und Stellenanzeigen sowie mit der Einbeziehung einer Anzeige, die nicht wie ein Personenprofil gestaltet ist, durchaus durchdacht zu sein scheint, kann man doch die Aussagekraft der Befunde nicht genauer einschätzen, weil Angaben zur Gesamtmenge der Anzeigenschaltungen im gewählten Untersuchungszeitraum, zur Verteilung auf Branchen/Marken o. Ä., zur Zielgruppenverteilung (Targeting-Mechanismen) oder wenigstens zu den Gründen für die Auswahl der vier besprochenen Texte fehlen. Zwar merkt der Autor an, dass im Untersuchungszeitraum zwei Drittel der gesichteten Werbung – mit abnehmender Tendenz – im Profilformat vorlag (S. 24), doch gibt er keine Auskunft über die Größendimension, von der hier die Rede ist.
Zusammengefasst erscheint der Beitrag daher zwar als detailreicher Einblick in ausgewählte In-App-Werbeanzeigen und die besonderen intertextuellen Anreize für eine Werbegestaltung auf Tinder, doch leistet er für die Werbelinguistik keinen originären Theorie- oder Methoden-Beitrag, zumal eine vergleichende Einordnung der Befunde in bereits bekannte und in der Forschung untersuchte multimodale Werbestrategien von (Online-)Werbung fehlt.
Mein Votum ist daher die Ablehnung des Artikels. Zwar könnte man auch für eine Rückgabe zwecks umfangreicherer Überarbeitung plädieren, aber mein Eindruck ist, dass es besser wäre, zu diesem Thema einen Artikel völlig neu zu schreiben – gerade dem Problem mangelnder theoretischer und methodischer Innovation und Originalität ist kaum mit einer Überarbeitung beizukommen, und auch ein Vergleich mit anderen Online-Werbeformen lässt sich bei der derzeitigen Anlage des Artikels kaum sinnvoll (d.h. formal ökonomisch und inhaltlich effektiv) nachträglich einbauen.
Prof. Dr. Nina Janich
Kommentar der Redaktion:
Nach Eingang der Gutachten entscheiden die Herausgeber_innen über die Einreichung. Aufgrund der unterschiedlichen Empfehlungen der Gutachten sowie der anstehenden Winterpause wird die Entscheidung auf Mitte Januar gelegt.