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Parasoziale Bindung durch Erfahrungsaustausch in Online-Communitys. Explorative Fallanalyse eines ‚Realtalks‘ auf YouTube und der reaktiven Kommentare
von Maria Fritzsche
Soziale Netzwerke, Streaming-Plattformen und Videoportale spielen eine zunehmend zentrale Rolle bei der Freizeitgestaltung vieler Menschen (Uttarapong et al. 2022: 5:2). Diese digitalen Räume werden als „third places“ (Hamilton et al. 2014: 1315) charakterisiert. In ihnen treten Personen außerhalb ihres familiär-freundschaftlichen Umfeldes und des Arbeitsplatzes mit anderen Menschen in Kontakt, suchen Zerstreuung und Unterhaltung, sie lernen fremde Ansichten kennen und bilden eigene. Als weitere Motivation wird der Wunsch beschrieben, durch den Austausch über geteilte Erfahrungen und Interessen sowie durch gemeinsame Handlungen (teils sporadische) Interaktionsgemeinschaften zu bilden (Antos 2019: 67). Dabei sind die Plattformen von zwei kommunikativen Rollen geprägt: den Content-Creator*innen und den Community-Mitgliedern. Um beruflich erfolgreich zu sein, müssen erstere ihre Online-Persona attraktiv und authentisch gestalten sowie soziale und emotionale Bedürfnisse ihrer Zielgruppe befriedigen (Hartmann 2017: 50).
Der Beitrag untersucht sprachlich-kommunikative sowie funktionale Aspekte dieser parasozialen Beziehung anhand eines Fallbeispiels. Als Untersuchungsgegenstand dient ein asynchroner und modalitätsübergreifender Dialog auf YouTube.
In einem über 37 000-mal aufgerufenen Video erzählt der deutschsprachige Content-Creator mittlerer Reichweite Donnie O’Sullivan den interessierten Zuhörer*innen von seinem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand, der ihm Sorge bereitet. Das Kommunikat ist als ‚Realtalk‘ markiert, also als aufrichtige Auseinandersetzung mit einem persönlich relevanten Thema und grenzt sich damit von seinem üblichen humoristischen Content ab. Eine kombinierte Analyse des emotionsausdrückenden Wortschatzes, der Informationsstruktur sowie der Kommunikation durch körperlich und mündlich vermittelte Merkmale zeigt auf, warum die geteilten Empfindungen des Sprechers potenziell authentisch wirken: O’Sullivan scheint im Moment der Videoaufnahme aktiv zu grübeln und während der Beschreibung seines Zustands um Deutung zu ringen.
In 533 reaktiven Kommentaren kommen einige der Community-Mitglieder dem Wunsch des Content-Creators nach Feedback nach. Diese schriftsprachlichen Beiträge werden in einer quantitativ informierten qualitativen Analyse untersucht. Dabei werden intertextuelle Bezugnahmen, Sprechakte und Diskurserweiterungen näher betrachtet. Die Kommentator*innen versichern dem Content-Creator Verständnis und Identifikation, loben seine Ehrlichkeit, erzählen von ähnlichen Erfahrungen und schlagen mögliche Erklärungen und Lösungen für sein psychisches Problem vor. Obwohl sowohl konsensuale als auch kontroverse Interpretationen auftreten, zeichnet sich nur in Ausnahmen eine Emanzipation des Diskurses ab.
Die explorative Fallanalyse zeigt, wie Content-Creator*innen die parasoziale Bindung zu ihrer Community durch authentische Thematisierung persönlicher Erfahrungen festigen und erweitern können. Gleichzeitig vermögen sie so ihre Netzgemeinschaft zu psychischer Entlastung, Selbstreflexion, narrativer Selbstdarstellung und Deutung geteilter Erfahrungen anzuregen. Diese emotional-kognitiven Prozesse könnten auch diejenigen betreffen, die sich passiv rezipierend auf die sprachlichen Handlungen in Video und Kommentarspalte einlassen. Eine partizipatorisch-egalitäre Interaktion scheint sich in diesem Medienformat hingegen nicht zu etablieren. Es bleibt vielmehr bei einem Dialog zwischen Content-Creator, der sich an seine Community richtet, und der*die den Content-Creator adressierende Kommentator*in über das von ersterem in den Diskurs eingebrachte Thema. Eine systematische Untersuchung der eruierten sprachlichen Aspekte parasozialer Beziehungen anhand einer breiter angelegten Korpusstudie scheint ein vielversprechendes Desiderat – auch, um ihre mögliche Adaption und Perversion in monetarisierten oder extremisierten digitalen Kontexten besser zu verstehen.
Literatur
Antos, Gerd (2019): Medien, Wahrnehmung, Öffentlichkeit. Wahrnehmungs-Gemeinschaften und deren Interaktion als Gegenstand der Medienlinguistik. In: Hauser, Stefan/Opilowski, Roman/Wyss, Eva L. (Hg.): Alternative Öffentlichkeiten: Soziale Medien zwischen Partizipation, Sharing und Vergemeinschaftung. Bielefeld: transcript Verlag (Edition Medienwissenschaft, 35), 53–80.
Hamilton, William A./Garretson, Oliver/Kerne, Andruid (2014): Streaming on Twitch: Fostering Participatory Communities of Play within Live Mixed Media. Toronto Ontario Canada: ACM, 1315–1324.
Hartmann, Tilo (2017): Parasoziale Interaktion und Beziehungen: 2. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft (Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikationswissenschaft, 3).
Uttarapong, Jirassaya/LaMastra, Nina/Gandhi, Reesha/Lee, Yu-hao/Yuan, Chien Wen (Tina)/Wohn, Donghee Yvette (2022): Twitch Users’ Motivations and Practices During Community Mental Health Discussions. In: Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction 6, Article No. 5.