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Blogstract zu
Soziale Medien als fünfte Gewalt: Strategische Organisation deutscher und finnischer Gegenredekampagnen auf Facebook
von Sabine Ylönen
Soziale Medien bilden als fünfte Gewalt eine neue Kontrollinstanz und können somit prinzipiell eine demokratische Funktion erfüllen (Bunz 2012). Sie beeinflussen zunehmend öffentliche Diskurse und haben moralische Sprengkraft (Burkhard 2015), denn Medien und Politiker greifen skandalisierende Themen gerne auf. Ihre Kehrseite ist die Entwicklung einer häufig hasserfüllten Debattenkultur, in der unter Verweis auf die Meinungsfreiheit früher tabuisierte Inhalte und Sprache enttabuisiert und akzeptiert werden. Neben herabwürdigenden Kommentaren über Angehörige marginalisierter Gruppen werden auch Bedrohungen von Vertretern bestimmter Berufsgruppen (Politikern, Juristen, Journalisten usw.) sowie die Verbreitung von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien als Bedrohung demokratischer Gesellschaften wahrgenommen. Da rechtspopulistische Politiker und ihre Anhänger soziale Medien überproportional nutzen (Lucht/Udris/Vogler 2017), kann der Eindruck entstehen, es handle sich um Einstellungen, die von der breiten Masse getragen werden. Als Antwort auf Hassrede bildeten sich aber auch Gruppen, die einer Normalisierung aggressiver und hasserfüllter Debattenkultur mit Gegenrede entgegentreten. Um den Diskurs in den Kommentarspalten sozialer Medien im Sinne der fünften Gewalt beeinflussen zu können, müssen Gegenredekampagnen auch quantitativ sichtbar sein.
In vorliegender kontrastiver Studie werden die Aktivitäten der deutschen und finnischen Facebookgruppen des Netzwerks #iamhere international, die zu den prominentesten Aktionsgruppen für Gegenrede gehören, auf ihre Intensität und Kontinuität hin untersucht. Anschließend wird danach gefragt, inwiefern unterschiedliche Netz-Strategien der Gruppen das quantitative Erscheinungsbild ihrer Aktivitäten beeinflussen. Zu diesem Zweck wurden alle Postings der finnischen #olentäällä-Gruppe von Januar bis August 2020 und der deutschen #ichbinhier-Gruppe von Juni bis August 2020 analysiert. In der Intensität unterschieden sich die Aktivitäten beider Gruppen stark: Insgesamt fanden sich reichlich doppelt so viele Postings von #ichbinhier in nur drei Monaten wie von #olentäällä in acht Monaten. Auch in der Kontinuität waren große Unterschiede feststellbar: Während es in der deutschen Gruppe täglich mehrere Postings verschiedener Art (Aktionen, Mitgliederaktionen und andere Postings) gab, war das in der finnischen nicht der Fall.
Die Untersuchung der strategischen Organisation der Aktivitäten ergab ebenfalls wesentliche Unterschiede, die Auswirkungen auf ihre Intensität und Kontinuität haben: Konventionalisierte Spielregeln für Aktionen, Mitgliederaktionen und andere Postings, wie von der deutschen Gruppe entwickelt, befördern offensichtlich Intensität und Kontinuität der Gruppenaktivitäten, während sich fehlende oder inkonsequente Regeln eher negativ darauf auswirken.
Literatur
Bunz, Mercedes (2012): Die fünfte Gewalt: Über digitale Öffentlichkeit und die Neuausrichtung von Journalismus und Politik. In: Rußmann, Uta; Beinsteiner, Andreas; Ortner, Heike; Hug, Theo (Hg.): Grenzenlose Enthüllungen. Medien zwischen Öffnung und Schließung. Innsbruck: Innsbruck University Press 2012 (Medien – Wissen – Bildung 2), 163–167. DOI: http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/791.
Burkhard, Steffen (2015): Medienskandale: Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln: Halem.
Lucht, Jens/Udris, Linards/Vogler, Daniel (2017): Politische Inszenierungen: Eine Inhalts- und Resonanzanalyse der Facebook-Seiten bundesdeutscher Parteien. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. https://doi.org/10.5167/uzh-147523.
Gutachten von: Sylvia Jaki
Bei der Einreichung von Sabine Ylönen handelt es sich um einen interessanten und innovativen Beitrag. Der Artikel vergleicht die Aktivitäten von #ichbinhier auf Facebook mit dem Pendant der Gruppe in Finnland, #olentäällä. Solche Vergleiche sind insofern für die Orchestrierung von Gegenmaßnahmen von ungemeinem Nutzen, als sie es, mehr noch als mit einem Fokus auf einen nationalen Kontext, ermöglichen, die Gründe für die Wirksamkeit bestimmter Strategien herauszustellen. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung sind folgende:
Diese Ergebnisse geben wichtige Anhaltspunkte für die konkrete Durchführung von organisierten Gegenredestrategien und sollten der Öffentlichkeit unbedingt zugänglich gemacht werden.
Dennoch stehe ich einer Veröffentlichung im jfml eher kritisch gegenüber:
Weitere kritische Anmerkungen bzw. Detailabeobachtungen:
Aus diesen Gründen halte ich es für die beste Lösung, den Artikel an einer anderen Stelle zu publizieren, womöglich sogar in einem Publikationsorgan, das etwas praktischer ausgerichtet ist. Eine erneute Einreichung im jfml halte ich dennoch nicht für ausgeschlossen, empfehle in diesem Fall jedoch folgende tiefgehende (!) Überarbeitungen:
Gutachten von Christian Pentzold:
Ich habe mit großem Interesse den Beitrag gelesen, der ein in großen Teilen unbestelltes Feld beackert. Nach der Lektüre habe ich folgende Anmerkungen:
+ Gliederung und argumentative Stringenz: Der (ziemlich lange) Beitrag könnte durch eine stärkere Binnengliederung gewinnen, im jetzigen Text verliert sich die kleinteilige Deskription und wird erst am Ende in einer Tabelle zusammengebunden. Auch würde ich anregen, die grundsätzliche Forschungsfrage und das dahinter liegende Interesse bzw. die damit adressierten Desiderata prononcierter herauszuarbeiten. Die prägnanteste Behauptung, dass Gegenredekampagnen umso erfolgreicher sind, je besser sie sich organisieren, kann die Studie mit ihrem Design gerade nicht erörtern.
+ Analytische Tiefe: Das vorliegende Manuskript präsentiert vor allem deskriptive Befunde, die interpretativ-analytische Auseinandersetzung mit ihnen fällt knapp aus. Ich würde dazu raten, hier stärker den Vergleich Finnland und Deutschland herauszuarbeiten (und überhaupt zu begründen, warum diese beiden Vergleichsländer gewählt wurden).
+ Definition Hassrede/Gegenrede: Die Autorin macht zu Recht klar, dass Hassrede/Gegenrede diffuse Begriffe sind. Warum es aber dann nützlich ist, sie noch mit Misinformation/Disinformation zu vermengen, bleibt unklar. Für mich wäre plausibler, hier trennschärfer die Bereiche abzugrenzen (was auch eine bessere Definition von Gegenrede erlauben würde).
+ Implizite/explizite Hassrede: Hier wäre zur Definition und Abngrenzung auch zu überlegen, inwifern Implizitheit/Explizitheit Publikums-/Produzent:innen-Kategorien sind (für wen implizit/explitit, s. Stichwort Dog whistle).
Entscheidung der Redaktion: Wir bitten die Autorin um eine Überarbeitung der Einreichung.
Ich danke den Gutachter*innen sehr für ihre wertvollen Kommentare, die ich versucht habe alle zu berücksichtigen, habe den Artikel entsprechend umstrukturiert und gekürzt.